Ende-zu-Ende Prozessdigitalisierung – Pflicht oder Kür?
Digitalisierung findet heute hauptsächlich innerhalb von Bereichsgrenzen statt
Betrachten wir aktuelle Studien zum Thema Digitalisierung / Industrie 4.0 kommen wir zu einem interessanten Ergebnis. Digitalisierung findet größtenteils innerhalb von Bereichsgrenzen statt. Beispielhaft sei genannt
- Autonome Transportfahrzeuge ersetzen einen manuellen Staplerverkehr.
- MES Systeme integrieren Maschinen- und Mitarbeiterdaten in ein zentrales Cockpit für die Produktion
- Field Service Mitarbeiter werden digital ausgestattet, so dass Sie Ihre Prozesse online dokumentieren und abschließend können.
Und keine Frage, je nachdem, wie lean die eigene Prozesslandschaft schon ist, durch Projekte wie diese lassen sich Effizienzsteigerungen erschließen und damit idealerweise für Kunden Kosten- und Performancepotentiale realisieren.
Innovativ ist dabei bestenfalls die Technologie, welche eingesetzt wird. Der Prozess, die Organisation und das Unternehmen selbst verändert sich dabei kaum. Vielmehr werden diese Strukturen durch abzuschreibende Investitionen weiter zementiert und erlauben es in Folge immer weniger auf veränderte Anforderungen und steigende Komplexität zu reagieren. Das ist an sich nichts neues, es wiederholt sich etwas, das Unternehmen mit Einführung monolithischer ERP Systeme bereits einmal durchlebt haben. Bei einer aktuellen Studie von etventure geben 37% der Unternehmen an, dass fehlende Flexibilität eines der großen Hindernisse in der Digitalisierung ist. Und über 40% stellen in Studie der internationalen Hochschule IUBH fest, dass technische Probleme, auch mit Altsystemen, die Digitalisierung verhindert.
So wie in der Vergangenheit die Einführung einer neuen Software die alten Probleme nicht gelöst hat, so passiert das Gleiche aktuell wieder durch die vermeintlich einfache Fokussierung auf Technologie alleine. Zumal dieser Ansatz eben auch nur innerhalb von Fachbereichsgrenzen funktioniert.
Das echte Digitalisierungspotential liegt in den Fachbereichsgrenzen und den Schnittstellen zu Kunden und Lieferanten
Wo steckt eigentlich das wirkliche Potential der Digitalisierung für mittelständische Unternehmen? Und warum fällt es so schwer diese unternehmerischen Chancen für mehr Flexibilität, Geschwindigkeit und Qualität zu nutzen? Das möchte ich am Beispiel der Kundenauftragsabwicklung erläutern.
Es gibt wohl kaum ein Unternehmen, dass es seinen Kunden nicht ermöglicht die Aufträge über eine Webplattform zu beschaffen. Die Entwicklung dahin ging vom Brief und Anruf über das Fax zur Email und dem Webshop. Und ja, dadurch wurde der Prozess jedes mal effizienter. Prüfen Sie an dieser Stelle doch einmal kurz wieviel Umsatz Sie über Webplattformen machen und ob sich im gleichem Verhältnis die Anzahl der Vertriebsmitarbeiter bei Ihnen reduziert hat?
Sehr häufig finden wir das Bild eines trotzdem wachsenden Vertriebsteams, den gleichzeitig zur Automatisierung hat sich die Varianz der Produkte erhöht, Lieferzeitanforderungen reduziert oder kundenspezifische Varianten sind entstanden. Und das hat den Abstimmaufwand zwischen Vertrieb, Fertigungssteuerung, Produktion, Entwicklung und Beschaffung deutlich erhöht. Je nachdem wie gut diese bereichsübergreifenden Abstimmungen funktionieren, wird das Unternehmen am Markt erfolgreich agieren.
Das eigentliche Prozesspotential ist also der bereichsübergreifende Prozess, die Kommunikation der Beteiligten und nicht die reine Digitalisierung der Auftragsübermittlung. Doch nur ein Bruchteil der Unternehmen wagt sich daran, Ende-zu-Ende Prozesse zu betrachten und zu digitalisieren. Wie lange dauert es bei einer Anfrage nach einer bislang nicht produzierten kundenspezifischen Variante bei Ihnen, bis von der Entwicklung Kosten und Änderungsbedarf abgeschätzt, von der Beschaffung Beschaffungszeiten geklärt und von der Produktion Lieferzeiten abgegeben wurden. Wie viel Potential liegt hier in Ihrem Unternehmen vergraben, sowohl in Hinblick Kosten als auch in Richtung Kundenzufriedenheit. Es ist ein offensichtlich komplexes Problem, dass durch einfache technische Lösungen, und seien Sie noch so smart, nicht gelöst werden kann. Denn nach Ashbys Gesetz, einer der zentralen Erkenntnisse aus der Kybernetik, kann Komplexität nur von etwas beherrscht und gesteuert werden, was selbst komplexer als die zu kontrollierende Fragestellung ist. Da kann auch eine sehr weit entwickelte KI wie IBM Watson aktuell nicht weiterhelfen.
Wie häufig priorisiert der Vertrieb einen Kundenauftrag ohne zu berücksichtigen, welche Komponenten dadurch für andere Aufträge verbaut werden und welche Kunden in der Folgewoche deswegen nicht beliefert werden können. Und wie häufig kommt es genau dort in der Folgewoche zu neuen Prio-Aufträgen. Von dem Aufwand in der Fertigungssteuerung und der Produktion für das Umplanen ganz abgesehen, fördert eine bereichsoptimierte Vorgehensweise in der Regel für das Gesamtunternehmen in Summe deutliche Mehraufwände.
Für das konkrete Beispiel gibt es zwar tatsächlich technologische Ansätze die Aufgabenstellung zu lösen, eigentlich sind nämlich alle relevanten Daten in einem typischen ERP System vorhanden, Stücklisten, Mengen, Bedarfe, Beschaffungszeiträume. Zu viel um vom Menschen jedes Mal berücksichtigt zu werden. Ein Algorithmus kann das allerdings recht einfach berechnen und optimieren. Im Verhältnis macht die KI Disposition nur 1/4 der Dispositionsfehler eines Menschen.
Aber was passiert, wenn die Datenbasis schlecht ist, oder das Analyseergebnis schlichtweg nicht akzeptiert wird oder der Kunde das Produkt tatsächlich einfach schneller benötigt. Dann war das ganze Projekt umsonst und das Unternehmen wird auch weiterhin mit Material- und Kapazitätsengpässen zu kämpfen haben. Halten wir also fest, das echte Potential beginnt fast immer an der Bereichsgrenze und an den Schnittstellen in vor- und nachgelagerte Fachbereiche. Ende-zu-Ende Prozessdigitalisierung ist damit Pflicht und nicht Kür, wenn das Unternehmen Effizienzen in den indirekten Bereichen realisieren will.
Kein Treiber für Ende-zu-Ende Prozessinnovation- und digitalisierung? Doch Kundenzufriedenheit!
Und genau hier liegt auch die Ursache begraben, warum es Unternehmen so schwer fällt an diesen Ende-zu-Ende Prozessen zu arbeiten. Wer ist verantwortlich für diese Schnittstelle? Schnittstelle hört sich nach IT an, aber in den meisten Unternehmen ist die aktive Einmischung der IT in Fachbereichsprozesse immer noch tabu. Wie kann gemessen werden welcher Fachbereich erfolgreich ist, wenn das Geheimnis in der Zusammenarbeit liegt? Womöglich müssen auch kleine Königreiche in Ihren Rechten und in Ihrer Eigenständigkeit beschnitten werden um ein großes Ganzes zu ermöglichen. Damit einher gehen mehr oder minder diffuse Ängste von Führungskräften und Mitarbeitern vor Kontroll- und Machtverlust, welche als starke Beharrungskräfte wirken und innovative Prozessänderungen be- oder verhindern.
Es gibt Unternehmen die sich dieser Aufgabe radikal nähern. Warum einzelne Fachbereiche, wenn es doch darum geht den Kunden zufrieden zu stellen? Frederic Laloux stellt in seinem Buch Reinventing Organisations dazu die Firma FAVI vor. Bei FAVI, einem französischen Automobilzulieferer ist ein Team vollständig für einen Kunden verantwortlich. Dieses Team ist interdisziplinär besetzt aus Vertrieb, Fertigungssteuerung, Produktion und Beschaffung und reagiert auf Anforderungen und Störungen höchst flexibel, da alle notwendigen Entscheidungen im Team selbst getroffen werden können.
Organisationsmodelle wie Soziokratie, BetaCodex oder Holacracy erfreuen sich dabei wachsender Beliebtheit, schaffen Sie doch einen Ordnungsrahmen für Unternehmensdemokratie und Selbstorganisation. Doch noch wagen nur radikal innovative Unternehmen diesen Schritt, der zur Vollständigkeit gut vorbereitet und über ein neutrales und agiles Coaching begleiten werden kann, um erfolgreich zu sein. Sonst bilden sich am Ende wieder informelle Hierarchien aus oder beim ersten Problem fällt das Unternehmen zurück in die alte Struktur. Mit S3 wurden agile Projektmethoden mit Soziokratie kombiniert und modularisiert , was einen schrittweisen Übergang aus der Hierarchie in demokratische Organisationsmodelle ermöglicht oder auch nur die Übernahme von einzelnen Bausteinen. Solche Veränderungen müssen allerdings bedingungslos vom Unternehmer und dem Top Management getragen werden um Chancen auf einen Erfolg zu haben.
Dem gegenüber stehen Ansätze wie Management 3.0, Employee Empowerment oder New Work welche weiterhin auf der klassischen Hierarchie aufbauen und nur schrittweise und dosiert Entscheidungshoheiten an Mitarbeiter übergeben. Gibt es da keine Best-Practice? Leider nein. Es handelt sich offensichtlich um eine komplexe Aufgabenstellung, welche die individuelle Situation des Unternehmens und der Mitarbeiter berücksichtigen muss. Das Cynefin Modell schlägt in diesem Zusammenhang Emergent Practice als Vorgehensmodell vor, übersetzt ungefähr sich entwickelnde Praxis, welche sich experimentell durch die Mitarbeiter entwickeln darf.
Ende-zu-Ende Digitalisierung fördert disruptive Prozess- und Organisationsveränderungen
Überraschenderweise ergibt sich damit für interne Digitalisierungsinitiativen die gleiche Problematik wie bei Geschäftsmodellen und in der Produktentwicklung. Kontinuierliche Optimierung von Bestehendem oder Chancen von disruptiven Ansätzen nutzen. Die Idee der Ambidextrie, also optimierend als auch disruptiv forschend unterwegs zu sein, ist damit nicht nur auf das Innovationsmanagement beschränkt, sondern lässt sich auch auf Prozessgestaltung und Organisationsentwicklung übertragen. Für Ende-zu-Ende Digitalisierung müssen Innovation, Digitalisierung und Transformation Hand in Hand agieren um Unternehmenserfolg sicherzustellen, übrigens der Grund warum uns als Yellow Birds genau diese drei Themenfelder so am Herzen liegen..
Ein Manager der auf Quartalszahlen oder die Verlängerungen seines 3-Jahresvertrages schauen muss, wird einen disruptiven Ansatz dabei kaum verfolgen. Nicht, weil er den Ansatz nicht versteht oder womöglich sogar für gut heißt, sondern weil die Transformation länger als sein Berichtszeitraum dauern kann und der Realisierungsstand zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlung nicht abschätzbar ist. Und Reduzierung von Risiken lernt jeder Manager in hierarchisch geführten Unternehmen von der ersten Stunde an. Hier können familiengeführte Mittelständler Ihre Stärke ausspielen, den schon immer ging es Ihnen um nachhaltigen und langfristigen Erfolg und nicht um kurzfristige Gewinnmaximierung. Mit dem Blick auf die nächsten 100 Jahre Unternehmenserfolg, dem Wissen dass in dieser Zeit mindestens zwei große wirtschaftliche Kondratieff – Zyklen mit einer Rezessionsphase stattfinden und wohl mindestens drei Generationen einmal das Ruder in der Hand halten ist in Familienunternehmen vollkommen klar, dass eine Veränderung stattfinden muss, diese aber genau so schnell erfolgen darf, wie es für das Unternehmen als lebende Organisation selbst realisierbar ist.
Alle Kompetenzen im Unternehmen aktiv nutzen
Was also tun? Die Lösung liegt im Unternehmen selbst. Es gibt keine Best-Practice, den ein Veränderungsprozess baut auf der Geschichte und Kultur des Unternehmens selbst auf, benötigt alle Ideen und die Bereitschaft aller Führungskräfte und Mitarbeiter um eine nachhaltige erfolgreiche Transformation in die Zukunft und den innovativen Einsatz von Digitalisierung zu schaffen, im Produkt, in smarten Services aber eben auch in Ende-zu-Ende Prozesse und damit die eigene Organisationsstruktur.
Berater, welche vorgeben hier Lösungen im Gepäck zu haben unterschätzen entweder die Komplexität des Systems Unternehmen, oder überschätzen Ihre eigene Fähigkeit der Komplexitätsbeherrschung drastisch. Auch wenn es für das Beratungsgeschäftsmodell wirklich unangenehm ist, ein Berater kann Ihrem Unternehmen nicht die Lösung sagen, er kann Sie nur auf Ihrem Weg professionell begleiten und immer wieder Raum für Entwicklung öffnen und durch Impulse und Interventionen immer wieder in Bewegung halten. Das verändert Beratung, aber ist wertvoll für Kunde und Berater.
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